Den Tiefpunkt überwinden - 7 Monate ohne Antidepressivum

Wann hat man es wirklich geschafft? Gilt man je als "frei"? Nach dem Tod meines Kindes im März 2019 stand für mich vor allem eins fest: nie wieder Antidepressiva! Mit diesem Entschluss stand ich zunächst alleine da, denn sowohl Ärzte als auch Familie fanden diesen Schritt zu radikal. Mittlerweile lebe ich seit 7 Monaten ohne Antidepressivum - ein Erfahrungsbericht.

 

Zwischen Depressionen und Suizidgedanken

 

Jahrelang habe ich versucht meine Depressionen alleine in den Griff zu bekommen. Meinem Kopf einzureden, ich würde weder Tabletten noch Hilfe von Ärzten brauchen. Ja, ich war tatsächlich fest davon überzeugt, dass ich diese unsichtbare Krankheit alleine besiegen kann. Heute weiß ich, dass ich zu jener Zeit den Krieg gegen mich selbst verloren habe und ohne Unterstützung nicht mehr hier sein würde. Die Depressionen haben mich überwältigt und mir mehrfach das Licht in den Himmel geöffnet. Ich habe mein Leben regelrecht in die Tonne getreten und den Kummer überhandnehmen lassen.

Im Juli 2018 veränderte ein Augenblick dann schließlich alles. Von Hass zerfressen und mit Tränen auf den Wangen war der Gedanke wieder präsent: Suizid. Es ist kein Geheimnis das diese Gedanken meinen Alltag bestimmen. Schon mehrfach habe ich versucht mein Herz ruhen zu lassen, doch irgendwas wollte mich nicht freigeben.

Aufgrund des erneuten Suizidversuchs und den permanenten selbstverletzenden Verhaltensweisen, entschied ich mich schließlich für eine Therapie. Anfangs beschränkte ich mich bewusst auf eine medikamentöse Behandlung, merkte jedoch schnell, dass Medikamente alleine nicht viel ausrichten können. Demzufolge wagte ich wenige Monate später den nächsten Schritt und stellte mich einer ambulanten psychiatrischen Einrichtung vor. Traumatherpie, Skillgruppe, Ergotherapie, Beschäftigungsgruppe und viele Sitzungen mit den Therapeuten folgten.

Ich fühlte mich gut, nahm langsam wieder am eigenen Leben teil und spürte eine Veränderung an mir. Die Ausraster und Panikanfälle nahmen schlagartig ab. Ich fing an mit fremden Menschen zu kommunizieren, wieder aktiv mit Freunden meine Zeit zu verbringen und wagte mich sogar an mein Telefon.

 

 

Fehlgeburt bei Paroxetin - Wenn das eigene Kind im Mutterleib stirbt

 

Alles schien perfekt, bis ich im März 2019 mein Kind verloren habe. Rosalie starb aufgrund meiner Medikamente.

Natürlich habe ich den Oberärzten von meinem Kinderwunsch erzählt. Auch habe ich direkt, nachdem ich von Rosalie erfahren habe ein Gespräch zu ihnen gesucht um herauszufinden, inwiefern das Paroxetin meine Schwangerschaft beziehungsweise das Leben meines ungeborenen Kindes beeinflusst. Erschreckenderweise war niemand mit einem solchen Fall vertraut. Dabei ist bekannt, dass manche Antidepressiva das Risiko für eine Fehlgeburt während der Schwangerschaft erhöhen. Dazu zählt auch Paroxetin.

Nur wenige Tage nach diesem derben Verlust habe ich den Wunsch einer Tablettenumstellung geäußert die auch binnen kürzester Zeit in Kraft getreten ist. Für mich ein Segen, denn nichts ist wichtiger, als von der medikamentösen Behandlung überzeugt zu sein. Daher ist es auch sehr wichtig, sich mit den Möglichkeiten dieser Behandlung zu beschäftigen, immerhin nimmt man das antidepressiv wirksame Medikament auch regelmäßig und über einen ausreichend langen Zeitraum ein. Das Vertrauen in mein Medikament (Paroxetin) war nach diesem schmerzhaften Vorfall jedoch futsch. Die Angst enorm!

Zum Glück reagierten die Oberärzte in meiner psychiatrischen Einrichtung sofort und stellten innerhalb weniger Minuten einen Medikamentenplan auf. Dieser beinhaltete nicht nur das neue Medikament (Escitalopram), sondern auch das Absetzen des ungeliebten Paroxetin.

Mit einem zufriedenen und hoffnungsvollen Lächeln verließ ich an jenem Tag die Einrichtung.

 

Den Tiefpunkt überwinden - 7 Monate ohne Antidepressivum

 

Mittlerweile sind 7 Monate vergangen - 213 Tage ohne Antidepressivum !

Ja, ich lebe seither ganz ohne Medikamente und habe Anfang dieses Jahres sogar meine Therapien in der psychiatrischen Einrichtung beendet. Gesund bin ich deshalb aber noch lange nicht.

Mein Leben hat sich seither deutlich verändert - nicht ausschließlich positiv, aber ich habe einen wichtigen Schritt in meine neue Zukunft gewagt. Escitalopram gehört wie Paroxetin der Vergangenheit an. Ich fühle mich gut, muss seither aber viel mehr auf mich und meine Gefühle achten. In den Therapien habe ich gelernt depressive Phasen "schwinden" zu lassen und mich richtig zu beschäftigen. Seither werden die unterschiedlichsten Skills angewandt, die sichtbaren Erfolg zeigen. So male ich täglich einige Mandalas aus, um die innere Anspannung zu senken. Kommt hingegen der Wunsch nach Selbstverletzung auf, beiße ich in etwas unangenehmes oder knete meine Massagebälle.

Einzig das Telefonieren und Türen öffnen fällt mir noch sehr schwer. Fremde Menschen stellen ebenfalls noch ein großes "Gefahrenrisiko" für mich dar und werden demzufolge bewusst gemieden. Nichtsdestotrotz lasse ich kleine Veränderungen zu und habe dadurch schon einige nette Menschen kennen lernen dürfen. Alles passiert langsamer als zuvor. Doch jeder noch so winzige Schritt ist ein Schritt in die richtige Richtung und wertvoller denn je.

Negativ ist auch die Zahl auf der Waage. Aufgrund der vielen Medikamente ist mein Körper wie ein Hefekloß aufgegangen. Die Folgen sind auch heute noch zu sehen. Um dem entgegenzuwirken habe ich mittlerweile ebenfalls vorgesorgt und ein Fitnessgerät in der Wohnung geparkt. Dieses nutze ich täglich und ernähre mich passend dazu gesünder. Ein Erfolg lässt noch auf sich warten, jedoch habe ich in all den Jahren vor allem eins gelernt: Geduld gehört dazu!

 

Antidepressiva absetzen - Leben ohne Medikamente

 

Auch wenn der Blick zurück sehr schmerzhaft und zäh ist, bin ich doch sehr froh ihn gegangen zu sein. Ich bereue nichts weder die vielen Klinikaufenthalte, noch die Einnahme meiner Antidepressiva. Meine Depression hat mir geholfen erwachsen zu werden und mir erlaubt mich besser kennen zulernen. Ich verstehe seither viele Dinge besser und fühle mich reifer. Das Vertrauen in die Ärzte ist deswegen nicht gesunken, jedoch habe ich angefangen mehr zu hinterfragen und lieber eine Nacht länger darüber zu schlafen.

Ich bekomme mein Leben auch ohne Antidepressivum endlich in den Griff und hoffe nie wieder darauf zurückgreifen zu müssen. Und wenn doch kann ich mir auf die Schulter klopfen und sagen: du hast es einmal geschafft, du schaffst es wieder.

Janine

Klappt es bei euch ohne Antidepressivum auch besser? Welche Erfahrungen habt ihr gemacht?

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8 comments

  • Katrin says:

    Liebe Janine,
    das hast du wirklich schön geschrieben. Ich habe seid Jahren mit Depressionen zu kämpfen, war schon in verschiedenen Kliniken und nehme AD....es ist dauernd ein auf und ab. Ich habe seid ca 1 Jahr das Fluoxetin abgesetzt....es hat mich sehr Wesens verändert, ich konnte zb nicht mehr weine . Ein großes Problem für mich war auch, das ich beim Sex keinen Höhepunkt mehr bekommen habe. Ich nehme noch Valdoxan und Dominal zum schlafen. Ich habe im letzten halben Jahr soviele Tiefs erlebt....wo auch Suizidgedanken kamen....ab und zu habe ich gedacht, ob es nicht besser wäre das Fluoxetin wieder zu nehmen. Aber ich habe es bisher immer mit nein beantworten können. Ab Mitte August habe ich endlich einen Platz bei iner Psychotherapeutin gefunden, wo ich alle Hoffnung reinsetze.
    Lg Katrin

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    • Janine says:

      Liebe Katrin,
      ich bin mir ganz sicher auch bei dir wird es wieder bergauf gehen. :) Der Weg zur Therapeutin ist ja schon mal ein Schritt in die richtige Richtung, alles andere wird gewiss auch positiv enden :)

      Fühl dich gedrückt und alles Liebe!

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  • Sissi S. says:

    Liebe Janine, erstmal vielen Dank, dass du deine "Welt" mit uns teilst, gehört doch immer auch die Angst vor erneuten negativen Erfahrungen dazu.
    Auch ich nehme Medikamente, früher war es Escitalopram, im Laufe der Monate (Absetzeung war damals das Thema) habe ich einen ekelhaften Rückschlag bekommen.
    Nach drei Zusammenbrüchen nehme ich nun Sertralin und Quetiapin, fühle mich gut damit, auch eine ambulante Therapie nehme ich in Anspruch.
    Ich würde auch gerne reduzieren, habe jedoch Angst, nochmal so zusammenzubrechen.
    Ich finde es gut, dass du uns immer weider teilhaben lässt, wie du lernst. Ich sehe es als Anregung, danke dafür.

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    • Janine says:

      Hey du,
      kann ich absolut nachvollziehen!

      Ich hatte die letzten 4 Tage eine Phase in der ich dachte es geht nicht mehr ich brauch etwas oder ich beende mein Leben. Aber das "Problem" hat sich zum Glück sehr schnell gelöst und ich kann wieder klar denken. Demnach kann ich das absolut nachvollziehen.

      Quetiapin hatte ich auch eine zeitlang, habe darauf aber seltsam reagiert XD
      Hihi

      Wünsche dir alles Liebe :)
      Irgendwann klappt es garantiert ohne und wenn nicht, es ist keine Schande Antidepressiva zu nehmen :)

      Lg Janine

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  • Daniela Reich says:

    Liebe Janine, danke für die Offenheit mit der du über dieses Thema sprichst! In meiner Familie ist es mein Bruder der seit Jahrzehnten unter Depressionen und Suizidgedanken leidet. Ich weiß gar nicht wie viele Medikamente er bis jetzt schon ausprobiert hat...auf Dauer hat bis jetzt keines geholfen. Ich bin froh zu hören das es bei dir auch ohne AD klappt wenn das auch bestimmt sehr anstrengend ist. Ich drücke dir die Daumen das es weiterhin bergauf geht und du trotz persönlicher Rückschläge ein erfülltes Leben führen kannst. Liebe Grüße Dani

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    • Janine says:

      Anfangs war es sehr anstrengend, aber langsam geht es mir gut :)
      Danke dir <3

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      • Mary Adamek says:

        Hallo Janine, ich setze bzw nehme dieses Medikament auch nicht mehr (jetzt 5 Tag) es ist der Horror, vor allem diese Stromschläge im Kopf. Ich will wissen wie du es gemacht hast bzw mit umgegangen bist. Ich liege viel im Bett und schlafe wenn es geht. Man muss doch irgendwie damit zurecht kommen und wann haben diese Symptome aufgehört, ist ja ein richtiger Entzog. Gruß Mary

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        • Janine says:

          Hallo Mary,
          puh erstmal Glückwunsch das du diesen Weg gegangen bist und toi toi toi auf deinem weiteren Weg :)
          Ich habe in der Anfangszeit sehr viel Zeit für mich genutzt, dabei viel gemalt (Mandalas für Erwachsene) und gebastelt. Mich versucht immer und immer wieder zu beschäftigen um erst gar keine miesen Gedanken aufkommen zu lassen. Hat auch super geklappt. Natürlich gab (und gibt es) zwischendurch auch immer wieder Momente an denen ich verzweifelt bin, einfach nur im Bett bleiben wollte oder den Wunsch nach Medikamenten geäußert habe. Aber ich habe einen sehr starken Willen und konnte es wohl nur deswegen durchziehen. Mittlerweile bin ich seit einem Jahr frei von Antidepressiva und nicht immer nur glücklich. Aber ich bin überzeugt es langfristig zu schaffen und ich bin mir sicher du bekommst das auch hin :)

          Wirklich schwere Symptome hatte ich übrigens nicht. Hatte es mir härter vorgestellt :)

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